Beitrag vom Donnerstag, 26. Februar 2015
Norwegens Städte – Eine Analyse
Norwegische Klein- und Mittel-Städte haben meist einen architektonisch recht uneinheitlichen Charakter. Nachfolgend gehe ich der Frage nach, wie es dazu kommen konnte und wo man auch in weniger attraktiven Orten noch hübsche Stadtviertel zum Bummeln und Flanieren finden kann.
Viele norwegische Städte sind aus spätmittelalterlichen Siedlungen hervorgegangen oder wurden zur Zeit der Renaissance gegründet. Sie sind zumeist in relativ fruchtbaren Auen oder Tälern, nahe des Wassers, unterhalb von schützenden Berghängen gelegen. Was einst strategische und wirtschaftliche Vorteile brachte, führt heute jedoch vielerorts zu verkehrstechnischen Problemen.
Den norwegischen Städten war selbst zu Zeiten der Industrieelisierung im 19. Jahrhundert nur ein vergleichsweise geringes Wachstum beschieden. Dies änderte sich erst in den 1930er Jahren und mit der einsetzenden Urbanisierung zwischen 1955 und 1975. Nach einem Abflauen des Wachstums in der 1980er Jahren setzte um 1990, u.a. begünstigt durch Zuwanderung, ein rasanter Bevölkerungsanstieg ein.
Städte sind in Norwegen deutlich weniger stark in der Kultur verankert als beispielsweise in den Nachbarländern Dänemark und Schweden. Ein städtisches Lebensgefühl konnte sich dort über Jahrhunderte hinweg entwickeln. In Norwegen hingegen ist der urbane Raum erst seit zwei bis drei Generationen ein fester Bestandteil des Alltags. Dementsprechend bildet sich erst langsam ein ästhetisches Gefühl für städtische Strukturen heraus.
Durch ein erst spät einsetzendes Wachstum sind Norwegens Innenstädte recht klein und durch eine geringe Gebäudehöhe geprägt. Zentraler Ort ist der Markt. Um ihn gruppieren sich einige, oft im 17. Jahrhundert rechtwinklig angelegte Straßenzüge. Ihnen folgen Villenviertel des 19. Jahrhunderts und innerstädtische Einfamilienhausviertel. An diese schließt sich der suburbane Raum an.
Folgende Struktur kann in den meisten Orten zwischen 8000 und 80.000 Einwohnern beobachtet werden. Sie gilt auch für die im II. WK zerstörten Städte. Hier wurde jedoch das Zentrum (M, FZ & IB), oft inkl. der Stadtkirche, komplett neu errichtet.
Markt (M)
Zentraler Ort ist der Marktplatz (M), Torg oder Torv genannt. Er war Kernpunkt der städtischen Entwicklung der 1930er und 1960er bis 1980er Jahre. Da die Bebauung der Orte nahezu vollends aus kleinen Holzhäuschen bestand, musste Platz geschaffen werden für die neuen verwaltungstechnischen Anforderungen der Kommunen. Es entstanden zahlreiche Gebäude im Stile der Zeit, genauer gesagt mehr oder minder seelenlose Betonwürfel.
Viele Märkte wurden in den letzten Jahren saniert und aufgewertet.
Fußgängerzone/Einkaufsstraße (FZ)
Angelegt wurden die innerstädtischen Einkaufsviertel in den 1979er/1980er Jahren. Um dem Gewerbe und auch Büros Platz zu bieten, wurde punktuell abrissen. Es entstanden überhöhte Betonbauten, die keine architektonische Einheit mit ihrer Umgebung bildeten. Der Zweck heiligte die Mittel.
Da das Bevölkerungswachstum zunehmend am Stadtrand stattfand (siehe unten), setzte ab den 1990er Jahren vielerorts eine Verödung des Zentrums ein. Dem versuchte man gerne durch den Bau eines Einkaufszentrums entgegenzuwirken. Die Situation des Zentrums blieb jedoch durch den bautechnischen Funktionalismus, die meist baumlose Enge und die schwierige Parkplatz- und Verkehrssituation weiterhin schwierig.
Einige Orte, wie z.B. Drammen, kämpfen weiterhin für eine vitale Innenstadt, andere Städte, wie z.B. Ålesund, scheinen den Kampf zumindest vorerst aufgegeben zu haben.
Neues Zentrum am Wasser (NZ)
In vielen Städten Europas kam es in den 1990er Jahren zu einer Umgestaltung der innerstädtischen Hafenbereiche. Die Industrie wurde ausgelagert und es entstanden neue Wohn- und Einkaufsviertel am Wasser. In einigen norwegischen Orten wuchs so ein neues Zentrum geran. Dieses umfasst zumeist eine Promenade, viele Restaurants und Kneipen, gerne auch eine neue Bibliothek und ein neues Kulturhaus sowie attraktive Penthauswohnungen. Die Entwicklung des neuen Zentrums geschah zu Lasten des alten, für welches meist noch keine neue Nutzung gefunden werden konnte. Beispiele hierfür sind die Städte Tønsberg und Haugesund.
Innerstädtische Bebauung (IB)
Um den Markt herum findet man den alten Stadtkern. Die Bebauung ist meist sehr uneinheitlich und setzt sich aus Holzhäusern des 18. und 19. Jahrhunderts, Verwaltungs- und Bürobauten des 20. Jahrhunderts, sozialem Wohnungsbau, einzelnen Apartmentanlagen, Hotels und Parkhäusern zusammen. Als Wohnviertel sind diese Gebiete nur bei jenen beliebt, die einen Hauch Urbanität suchen. Ansonsten wirken die lang gezogenen Straßenschluchten eher beengend und es fehlt meist an städtischem Straßengrün. An den teils zahlreichen, eher lieblos sanierten Gebäuden lässt sich erkennen, dass viele Menschen mit diesen Stadtvierteln offenbar wenig anzufangen wissen.
Bürgerhäuser und Villen (BV)
Nahezu alle Orte werden durch eine im 19. Jahrhundert erbaute, neogotische Stadtkirche aus Backstein oder Holz geprägt, die ein zu klein gewordenes älteres Gotteshaus ersetzt. Hier öffnet sich die Stadt, sie wird weit und einladend. Prägend für diese Quartiere sind meist schöne, perfekt sanierte Bürgerhäuser, Pfarrgebäude oder Villen des 19. Jahrhunderts, die eine Besichtigung lohnen (z.B. in Drammen, Lillehammer, Hamar, Larvik). In manchen Orten sind diese Viertel auch in Richtung des innerstädtischen Hafens, Pollen oder Vågen genannt, zu finden. Außerdem laden kleine Parks zum Flanieren und Verweilen ein.
Altes Holzhauszentrum (AH)
In einigen Orten haben Teile der kleinen, verwinkelten Bebauung des 18. und 19. Jahrhunderts Brände und Stadtplanung überstanden (z.B. in Arendal und Tønsberg). Die meist auf einem kleinen Hügel gelegenen Viertel besitzen hübsche, teils winzige Holzhäuser und haben Charme.
Innerstädtische Einfamilienhausviertel (IE)
Am Rande des Zentrums entstanden vor und nach dem II. Weltkrieg innerstädtische Einfamilienhausviertel. Diese werden durch den Funktionalismus der Vor- und Nachkriegsjahre sowie den unter dem Ministerpräsident Einar Gerhardsen geförderten Systemhäusern geprägt. Die Viertel wirken teilweise seltsam ungepflegt, sind halb urban und halb suburban. Punktuell werden die Quartiere durch ältere, eher unansehnliche Gewerbeansiedlungen unterbrochen. Das städtische Krankenhaus ist hier meist ebenso zu finden, wie auch der Fuhrpark der Verkehrsbetriebe.
Suburbaner Raum:
Norwegische Städte entwickeln sich in die Breite. Der Drang hin zu einem Häuschen im Grünen ist ungebrochen. Doch auch große Gewerbeansiedlungen und Satellitenstädte sind am Ortsrand anzutreffen.
Satellitenstädte (S)
In vielen der etwas größeren Orte wurden ab den 1960er Jahren so genannte Satellitenstädte angelegt. Deren Lage ist meist nicht schlecht, am Waldesrand oder am See, oft mit toller Panoramasicht über den Ort. Einen schönen Anblick stellen die hohen Betonklötze trotzdem nicht dar. Durch Sanierung und einer Gestaltung des Umfeldes versucht man teilweise die Viertel aufzuwerten.
Einfamilienhausviertel, Wohnblocks und Gewerbe (EWG)
Der Stadtrand ist eindeutig die beliebteste Wohnregion. Hier ist es nicht weit bis in die Natur, in der man mit Vorliebe die Freizeit verbringt. Die Wohnviertel, neue, wie auch ältere, wirken sehr gepflegt. Viele Häuser bieten einen tollen Blick über das Tal oder das Wasser.
Neben den Einfamilienhäusern gibt es auch Panorama-Wohnblocks verschiedener Bauetappen. Auch diese sind sehr beliebt, da sie ein attraktives Wohnumfeld besitzen und preisgünstiger sind.
Da nun für viele Städter der Lebensmittelpunkt am Stadtrand zu finden ist, haben sich die Gewerbetreibenden dem angepasst. Es entstanden neue Stadtzentren, deren Mittelpunkt meist ein großes Einkaufszentrum ist. Hier gibt es kostenlose Parkmöglichkeiten und eine gute Erreichbarkeit. Da das Zentrum selbst eher weniger mit attraktiven Gebäuden und einmaligen Shoppingerlebnissen, sondern allenfalls mit der Bibliothek, dem Kino und ein paar Museen punktet, wird dieses im Vergleich nur selten aufgesucht.
Verfasst von Martin Schmidt
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