Beitrag vom Dienstag, 01. Dezember 2020
Feiertag auf Brøtøy
Ein Weihnachtsabend in Krokskogen
(Über das Leben in der Nordmarka, einem einsamen Waldgebiet am nördlich Stadtrand von Oslo.)
Von Eva Huseby, deutsch: Åse Birkenheier
Es war Heiliger Abend, und ich ging auf Skiern durch die Nordmarka. Ich hatte vor, von Mylla herunter bis nach Storflåten zu gehen. Seit vielen Jahren hatten die beiden Alten dort Weihnachten allein gefeiert, am heutigen Abend würden sie aber einen Weihnachtsgast bekommen. Ich hatte mich selbst eingeladen und wusste, wie sehr sie sich darüber freuten. Als ich aus der Stadt angerufen und gefragt hatte, ob ich etwas mitbringen solle, antwortete Astrid leise, das sei nicht der Fall. Ich hätte es wirklich besser wissen müssen. Sie, die seit vierzig Jahren Weihnachten in der Nordmarka feierte, hatte sicher auch diese Weihnachten alles, was sie brauchte, oder nicht?
Stattdessen nahm ich im Rucksack zwei Weihnachtsgeschenke mit, zwei Kilo Mandarinen und Vogelfutter, Weil ziemlich viele Minusgrade gemeldet waren, packte ich auch warme Kleidung ein. Im Zug nach Hadeland saßen nur noch zwei andere Nordmark-Touristen mit Rucksäcken. Eine Mutter mit ihrem Sohn. Vielleicht hatten sie vor, Weihnachten in einer Hütte in der Nordmarka zu feiern?
Auf dem Øljasee sah ich keinen einzigen Menschen. Am Heiligen Abend blieben wohl die meisten daheim, um die Feierlichkeiten vorzubereiten. Mitten auf dem Tverrsee sprinteten mir vier oder fünf Skiläufer entgegen, unterwegs nach Hause. Mittlerweile sehnte ich mich danach, das fest körperlich zu spüren. In ein paar Stunden würden die Kirchenglocken läuten. Ein Ehepaar in mittleren Jahren grüßte freundlich im Vorbeigehen. Als teilten wir ein Geheimnis, obwohl sie nicht wussten, wohin ich wollte. An den Sinnerputten kam mir noch ein Skiläufer schnellen Schrittes entgegen, dann verschwand er in nördlicher Richtung.
Endlich wurden meine Schübe mit den Skistöcken rhythmischer, und langsam nahm die Ruhe von mir Besitz.
Im Schnee gab es keine Spuren mehr. Ich lief weiter, an der Flussmündung entlang, und erreichte das Ende des Spålsees. Auch am See entlang gab es keine frischen Skispuren. Alles war weiß, öde und still. Hier drinnen würde man am heutigen Abend keine Kirchenlieder hören. Bald würde sich eine himmlische Sternendecke über die Landschaft senken, und ich spürte eine seltsame Sehnsucht. Hier hatte ich mich schon öfter schlafen gelegt und war von der Morgensonne geweckt worden.
Am Spålsweg herunter trat ich auf einmal in frische Elchspuren; vielleicht war das große Tier ganz in der Nähe? Ich hatte das Gefühl, als stehe der Elch irgendwo da drinnen zwischen den Bäumen. Doch im Wald blieb alles still, und kurz darauf musste ich damit beginnen, mir selbst eine Loipe zu stampfen. Die letzten Kilometer gab es keine anderen Spuren im jungfräulichen Schnee. Ich wusste, dass die beiden Alten im Dämmerlicht saßen und auf mich warteten. Endlich konnte ich auf dem Waldweg zum Hof hinunter abfahren. Es leuchtete aus einem der Fenster und der Elchhund schlug an
, noch bevor ich unten angekommen war. Die Außentür wurde langsam geöffnet und auf der Treppe erschien Anders. Er hatte mich vom Fenster im Flur gesehen.
Festlich gestimmt zog ich die Skier aus, klopfte den Schnee ab und ging hinein. Wie immer sprach Anders am Anfang nicht viel. Er blieb die meiste Zeit still auf dem Diwan sitzen und streichelte den Elchhund über den Rücken. Astrid war es, die für das Weihnachtsfest verantwortlich war. Jetzt stand sie drüben am schwarzen Herd und bereitete das Essen vor. Im roten Pullover, schwarzer Hose und mit einer blaugemusterten Schürze. Ihre Haare hatte sie beim Friseur unten in Hønefoss machen lassen, sie waren frisch geschnitten. Es kam mir vor, als sei sie stiller als sonst. Die beiden waren seit vielen Jahren Weihnachten allein gewesen, und wir waren weder verschwägert noch verwandt. Jetzt würden wir den Heiligen Abend zusammen feiern.
Ich zog das rote Weihnachtskleid an und legte die Weihnachtsgeschenke auf die Bank. Alle drei sprachen wir nur wenig, während sich langsam der Duft von hausgemachtem Sauerkraut verbreitete. Jetzt spürte ich, dass Weihnachten gleich beginnen würde. Gegen fünf setzten wir uns an den Tisch. Es gab reichlich zu essen. So schmackhafte Weihnachtsrippchen hatte ich noch nie gegessen. Durch den Aquavit bekamen die Alten Farbe im Gesicht, und auch mir wurde warm. Der Weihnachtsfriede war nach Flåtan gekommen.
Nach dem Spülen gingen wir ins Wohnzimmer, um Kaffee zu trinken und Weihnachtsplätzchen zu essen. Endlich bekam ich den Baum zu sehen, den Astrid geholt hatte. Er war mit Lametta und mit Kugeln geschmückt, doch mir fielen am meisten die glänzenden Vögel auf. Sie glitzerten von ganz oben, und deswegen leuchtete der kleine Baum besonders schön. Auf dem Wohnzimmertisch hatte Astrid eine Kerze angezündet, auf dem kleinen Tisch vor dem dunklen Fenster standen eine rosa Weihnachtsbegonie und dazu ein roter Weihnachtsstern. Das waren Weihnachtsgrüße von Freunden und Familie unten in Ringerike.
Ich sah keinen einzigen julenisse, das machte aber das ganze nur noch feierlicher. Astrid nahm eine Weihnachtskarte in die Hand, vom Vorsitzenden des Osloer Stadtrates geschrieben. Vierzig Jahre lang hatte sie jeden Morgen um acht für das Wasserwerk die Niederschläge gemessen. Dafür hatte sie den Verdienstorden des Königs bekommen. Jetzt saß sie ruhig da, die Kaffeetasse in der Hand, und las die Weihnachtskarte. Es war das erste Mal, dass ich Astrid so sitzen sah, ruhig beim Lesen.
„Das hat sie verdient“, sagte Anders mit Nachdruck. Drüben in der Ecke, neben dem Bullerofen, war das Brennholz für den Heiligen Abend aufgestapelt worden. Am Weihnachtsabend würde niemand in den Holzschuppen hinausgehen müssen, dafür hatte Astrid gesorgt. Meine beiden Geschenke bleiben ungeöffnet auf der Bank liegen. An diesem Abend wurden auch keine anderen Geschenke geöffnet.
Kirchen. Und Weihnachtslieder wurden auch nicht gesungen. Niemand machte das Radio oder den Fernseher an, doch wir blieben lange auf. Astrid und ich lauschten den Geschichten, die Anders erzählte. Immer wieder mussten wir Tränen lachen, obwohl wir viele von ihnen doch schon kannten. Der alte Bewohner von Nordmarka erzählte gern. An diesem Abend hätte die Welt untergehen können, ohne dass wir in Flåtan etwas davon mitbekommen hätten.
Dieses Weihnachten war in Krokskogen die Welt noch in Ordnung.
Verfasst von Martin Schmidt
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