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Beitrag vom Dienstag, 01. Dezember 2020

Feiertag auf Brøtøy

von Lars Hansen

Draußen auf dem offenen Meer, weitab von allem übrigen Land, liegt die Insel Brøtøy. Ihre grauen Küstenhänge fallen jäh zur See ab, außer an der Südwestseite, wo sich Steinlawinen mit ohrenbetäubendem Getöse zwischen den hohen, steilen Felswänden ins Meer stürzen. Auf dieser Seite der Insel, oben in einer Bergspalte, wohnt Petter Mikal, und man braucht schon ein scharfes Auge, um das Häuschen zu entdecken, denn das alte Treibholz, aus dem es gebaut ist, hat im Laufe der Zeit ganz die Farbe des Felsens angenommen.
Auf Brøtøy gibt es nur dieses eine Haus. Niemals sind es mehr gewesen, und niemals werden welche dazu kommen, denn dort, wo Petter Mikals Hütte steht, ist der einzige Fleck, der überhaupt Platz bietet – aber eben nur für dieses eine Häuschen und einen winzigen Schuppen, dessen Wände von drei Steinblöcken gebildet werden; hier bewahrt Petter Mikal sein Boot und seine Gerätschaften auf.
Das Haus, das vor langer, langer zeit gebaut wurde, hat Petter Mikal von seinen Vätern ererbt.
An Sommertagen scheint die Mitternachtssonne ins Fenster, die Mitternachtssonne aber kann dort niemals etwas ausrichten -. Der Brøtøy-Gipfel steht im Wege und nimmt das Licht weg.
Es war Winter, das Nördliche Eismeer schickte seine gewaltigen Dünungen gegen die Felswände und schleuderte sie an ihnen hoch, so dass Brecher und Gischt den Schnee in halber Höhe der Felsenm wegwuschen, die deshalb selbst an Wintertagen schwarz und nackt dastanden. Bei ruhigem Wetter aber hingen meterlange Eiszapfen und schwere Eisklumpen über sie hinab.
Petter Mikal war Witwer und hatte drei Kinder. Die Tochter Petra war vierzehn Jahre alt und führte ihrem Vater und ihren beiden Brüdern, dem achtjährigen Olaf und dm vierjährigen Håkon, den Haushalt.
In der Brøtøy-Schlucht, wo das Häuschen stand, konnten ein paar Schafe recht und schlecht ihr Leben fristen. Sechs Schafe bildeten den größten Viehbestand, der sich auf Brøtøy halten ließ. Oft genug aber war er kleiner gewesen, denn so manches Jahr fielen ein oder mehrere Tiere die Felswand hinunter ins Meer.
Zur Zeit der Eltern war es zweimal geschehen, dass sich im Frühjahr auf Brøtøy kein einziges Tier fand – alle waren sie im Laufe des Winters abgestürzt. Das aber war nicht mehr vorgekommen, seit Petter Mikal das haus verlängert hatte, so dass es am Nordende zwei Schafen und zwei Ziegen Platz bot. Und wenn es ganz schwerhielt, etwas zum Beißen zu finden, kamen sie in den Wohnraum herein.
Es war früh am Morgen des Heiligen Abend, zwischen sechs und sieben Uhr. Der Sturm heulte, und Schnee drang durch jede einzelne Ritze herein.
Drinnen brannte eine Zehn-Linien-Petroliumlampe, die mitten in der Wohnstube an einem Seilhaken hing. Der Herd nahm einen wesentlichen Teil des Fußbodens ein, so dass gerade noch für einen Tisch, zwei Stühle und ein paar Schemel Platz blieb. In einem der Schemel klaffte ein rundes Loch, dass zum hochheben diente; jetzt aber steckten darin einige Zweige von einem Reisigbesen, an denen kleine, aus Zeitungspapier geschnittene Figuren aufgehängt waren – das war der einzige Schmuck des Weihnachtsbaums, und um ihn herum wanderten Petram Olaf und Håkon und sangen:

„Frohe Nacht, heilige Nacht,
nieder schweben Engel sacht …“

Von der Herdplatte stieg ein Geruch von verbranntem Teig auf. Petra ließ ihre Geschwister los, und mit einem Tischmesser schob sie die kleinen Kuchen hin und her. Obwohl sie die Plätzchen aus gewöhnlichem Schwarzbrotteig gebacken hatte, waren sie doch für Brøtøy-Kinder das übliche Weihnachtsgebäck. Sonst gab es während des Jahres nur grobes Schrotbrot.
Olaf und Håkon konnte man ansehen, dass Heiliger Abend war, Petras mageres, graubleiches Gesicht aber zeigte keine Weihnachtsfreude.
Auf einmal lag ihr Gesicht plattgedrückt an der Fensterscheibe, während ihre großen blauen Augen durch das kleine Loch in der eisbedeckten Scheibe hinauszuspähen suchten. Dieses Loch in der Eisschicht hatte sie zustande gebracht, indem sie den Mund dicht an das Glas hielt und beharrlich auf dieselbe Stelle hauchte. Doch wenn sie nicht achtgab, fror es in wenigen Minuten wieder zu. Deshalb lief sie ständig zwischen Kuchen, Weihnachtsbaum und Fenster hin und her. Dabei sagte sie: „Bald wird Vater wohl kommen.“
Dann nahm sie die Lampe und hängte sie an einen Nagel nahe dem Fenster.
„Nun kann Vater das Licht von weitem sehen.“
Ein schwerer Stoß traf die Tür – noch einer – und dann folgte Stoß auf Stoß. Petra lief hin und öffnete die Tür.
Als sie die Haspe abgehoben hatte, riss der Sturm die Tür sperrangelweit auf, und herein stapften zwei Schafe und zwei Ziegen, über und über beschneit und vereist. Petras magere Arme versuchten die Tür gegen den Sturm zu stemmen und sie wieder zu schließen, aber die Tür stand da wie an die Wand genagelt – der Sturm hielt sie fest. Olaf und Håkon kamen zu Hilfe geeilt, und im Nu waren die drei Kinder ganz von dem Schnee überschüttet, der durch die offene Tür hereinfegte.
Aber die sechs Kinderhände hielten krampfhaft fest, und die kleinen Körper pressten ihre Füße mit beachtlicher Stemmkraft gegen die Torfkiste. Plötzlich sprang der Stoßwind um, und die Tür schlug zu – doch nicht ganz, denn Schnee lag dazwischen.
Es war nicht das erste Mal, dass die Kinder in eine solche Lage gerieten. Petra ergriff einen abgebrochenen Bootsriemen und drückte ihn blitzschnell mit dem einen Ende gegen die Tür und mit dem anderen an die gegenüberliegende Wand, während Olaf und Håkon den Schnee aus der Türspalte kratzten. Nach mühsamer Arbeit bekamen sie die Haspe schließlich wieder eingerastet, und dann gaben sie sich erneut der Weihnachtsfreude hin.
Petra nahm eine gedörrte Hammelkeule von der Decke, schnitt einige Stücke ab und steckte sie auf zurechtgeschnittene Hölzchen.
Olaf und Håkon vergnügten sich damit, die Fleischstücke an den Hölzchen in die Glut des Herdes zu halten, und verspeisten sie dann warm und zum Teil angebrannt.
Danach holte Petra zwei alte Gesangbücher hervor, und um den Schemel mit den geschmückten dürren Zweigen herum sitzend, sangen die Kinder mit hellen Stimmen:

„Ein Kind erschien zu Bethlehem, zu Bethlehem,
des freuet sich Jerusalem.
Halleluja – halleluja.“

Draußen aber brüllten der Schneesturm und das Meer um die Wette.

Von Brøtøy bis Mikkelsvik sind es ungefähr drei norwegische Meilen.
Im Laden des Kaufmanns Nilsen stand Petter Mikal. Es war am Morgen des Kleinen Heiligen Abends. Petter Mikal war in Eile – er hatte früher in Mikkelsvik sein wollen, aber der Sturm hatte ihn daran gehindert, von Brøtøy wegzukommen.
Nilsen sagte zu den anderen Kunden: „Ihr müsst noch warten, Petter Mikal muss zuerst bedient werden. Ihr wisst ja selbst, dass er den weiten und beschwerlichen Weg hat, bis nach Brøtøy hinaus, und dort sitzen die Kinder allein zu Hause.“
Alle Kunden wussten das, und mit der Geduld der Schärenbewohner warteten sie, bis sie an die Reihe kamen. Alle hatten größere oder kleinere Meeresstrecken zurückzulegen, Brøtøy aber – o weh – nein, Petter Mikal musste schon zuerst drankommen. Brøtøy – eine scheußliche Ecke!
Nilsen riet Petter Mikal, doch etwas zu verschnaufen, denn bei diesem Wetter sei es ja im ganzen Skagesund kaum möglich, auch nur den kleinsten Fetzen von Segel zu führen. Petter Mikal aber hisste sein Segel, und los ging es – hinaus, der offenen See zu, bei Schneetreiben, mit zwei Reffen an dem kleinen, leichten Bindalsboot. Einige Minuten später war er den Blicken derer, die in Mikkelsvik zurückgeblieben waren, entschwunden.
Jaja, Petter Mikal bewältigt das tatsächlich schon länger als sein Vater, aber nun könnte man ihn auch beinahe für ein Seegespenst halten.
Das kleine, leichte Nordlandboot durchschnitt die schäumenden Wellen über den Båresund hinaus. Der Wind wehte von Westen her und trug feine, trockene Schneeflocken heran; als Petter Mikal aber nach Adamsøya kam, wo das offene Meer voll zu drücken begann, nahmen Sturm und Seen derart zu, dass er das dritte Reff am Segel. Das jetzt wie ein bloßer Lappen war, einlegen musste.
Dennoch schäumte, sooft eine Quersee kam, die Gischt über Petter mitsamt seinem Boot herein. Während er mit der Rechten die Ruderpinne hielt, handhabte er mit der Linken das Ösfass. Petter Mikals Augen hingen wie gebannt an der dunklen Wand, die sich im Westen erhob.
Da kam ein Stoßwind, der das Boot um ein Haar zum Kentern gebracht hätte, während es bebend über den Kamm eines Wellenberges hinjagte.
Petter luvte dicht an den Wind und gelangte so bis nach Andammen. Dort übernachtete er im Haus von Bekannten. Auch sie waren mit den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest beschäftigt – mit acht Kindern in einer kleinen, torfbedachten Hütte; diese Kinder aber hatten Vater und Mutter. Zwei Gesangbücher lagen schon ganz früh am Morgen auf dem Tisch bereit, der mit einem sauberen Wergsack bedeckt war.
Petter Mikal blickte nach Brøtøy hinüber. Ob er wohl nach Hause käme? Zwischen Andammen und Brøtøy lag eine offene Meeresstrecke von etwa einer Meile.
Der Sturm nahm zu, Petter Mikal aber hatte keine Ruhe mehr – immerzu wanderte er zwischen der Nehrung und dem Haus in Andammen hin und her. Alle rieten ihm ab. In Andammen wie auch anderswo wussten sie ja, was es hieß, an einem Wintertag bei Unwetter im Kleinboot nach Brøtøy zu segeln.
Soviel aber stand fest: sollte es etwas werden, so musste es bei Tageslicht geschehen. Und das hielt sich ja nicht viel länger als eine Stunde.
Gegen elf Uhr sickerte das spärliche Tageslicht über die Schären hinein. Es zeigte das aufgewühlte Meer Weiß in Weiß, soweit das Auge reichte, wenn sich zwischen den Schneeschauern ein kleiner Durchblick öffnete. Petter Mikal stand unten an seinem Boot. Langsam steckte er erst den einen und dann den anderen Seestiefel in die gefrorene Ölzeughose, zog sich diese hoch und schob sich ihre Träger über die Schultern. Die Ölzeugjacke schlug er zunächst gegen den Vordersteven des Bootes, um sie vom Schnee zu befreien. Dann schlüpfte er auch in sie hinein und knöpfte sie gut und fest zu. Schließlich schnallte er sich den Gürtel mit dem Scheidemesser um und zog die dicken, selbstgestrickten Fausthandschuhe an.
Die Leute von Andammen standen unten an dem tief verschneiten Landungsplatz. Der rasende Schneesturm hinderte auch die Kinder nicht daran, Petter Miakl zum Boot hinunterzubegleiten. Barhäuptig und blaugefroren wateten sie durch den Schnee, der ihnen bis an die Knie reichte. Das war Weihnachten am Nördlichen Eismeer. Frohe Nacht – heilige Nacht!
Petter Mikal lag auf Knien – nicht um zu beten, sondern um seine eng angewinkelten Beine unter die Ducht zu pressen, so dass er beide Hände frei bekam – er befand sich nun außerhalb der Nehrung. Da fing es an. Er musste voraus und achteraus sehen – meistens achteraus, denn jede Welle musste abgeschätzt werden, ehe sie das Boot erreichte. Wenn sie mit allzu großer Schaumkrone heran kam, musste er etwas Tran ausgießen.
Er warf wieder einen Blick voraus – es galt den richtigen Kurs zu halten. Verfehlte er Brøtøy, so ging es ins offene Meer – ins Eismeer hinaus. Seine scharfen Augen spähten angespannt aus, und alle halbe Minute drehte er den Kopf herum. Blickte er voraus, hörte er von achtern das Brüllen einer turmhohen See – da kam sie -, doch ein Ösfass voll Tran dämpfte ihre Wucht und glättete ihren Kamm. Es entstand eine Öffnung in dem brüllenden Ungetüm, ein blanker, ruhiger, schmaler Streifen, so breit wie das kleine Boot.
Und mit dem Transtreifen obenauf brausten die brüllenden Schaumkämme vorüber, so dass das Boot an beiden Seiten mit brodelnder Gischt überschüttet wurde.
Oben von der Spitze der großen Sturzsee, auf der das Boot, von der Hubkraft des Sturmes an dem kleinen Segelfetzen getragen, bebend durch die Gischt glitt, gewahrte er Brøtøy. Für einen flüchtigen Augenblick erhaschte er einen Schimmer vom haus. Sein Kurs war ziemlich genau auf die Felsschlucht gerichtet, aber schon musste Petter wieder nach achtern sehen – eine furchtbare Woge kam heran, höher als die anderen; sie war noch weit achtern, ihr aber musste er folgen, sie würde ihn und das Boot bis an die Schuppenwand tragen. Jetzt steckte er mitten im Unwetter, und Trotz leuchtete ihm aus den Augen.

Petra stand am Fenster und sah auf das aufgewühlte Meer hinaus. Plötzlich schrie sie: „Vater kommt!“ Und alle drei Kinder stürzten zur Tür. Als die Haspe abgehoben war, schlug die Tür gegen die Wand, während der Sturm Schneemassen herein peitschte, die die ganze Öffnung füllten. Die Kinder rannten hinaus; dünn bekleidet, ja halbnackt wateten sie durch den lockeren Schnee, der ihnen bis an die Hüften reichte. Aber sie gelangten nach unten.
Dort kam das Boot mit dem Vater – auf einer riesigen Woge, deren schaumbedeckter Kamm sich gegen den schon dunklen Himmel abzeichnete. Dort kam er, wie ein gejagter Vogel, hoch oben auf der Schaumkrone, so hoch, dass die Kinder den Kiel des Bootes sehen konnten, das ganz von Gischt umbrodelt war.
Als die Welle zwanzig Faden vom Land entfernt war, traf sie auf den Rückschwall, der ihr entgegen kam, und die gewaltige See, die das Boot trug, nahm mehr und mehr die Form einer sich vornüberneigenden, vorwärts wälzenden Lawine an. Auf ihrem Scheitel stand das Boot.
Da stürzte sie senkrecht nieder. Das Boot und Petter Mikal wurden unter dem ungeheuren Wasserberg begraben.
Die Angstschreie der drei Kinder übertönte das Brüllen des Brechers, der das Boot verschlang.
Alles war verschwunden. Die Kinder standen zitternd draußen im Schneesturm, die angsterfüllten Augen weit aufgerissen, den Blick auf die Stelle geheftet, wo das Boot verschwunden war.
Da kam die nächste schwere Sturzsee mit weißem Kamm, ihre Gischt reichte fast bis zu den Kindern hinauf. Als sie zurückströmte, lag Petter Mikals entstellter Körper zu Petras Füßen.
Unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es den Kindern, die Leiche des Vaters so weit auf die Schneewehe heraufzuziehen, dass sie keine Welle mehr erreichen konnte.

Eine Stunde später hatte Petra den Weihnachtstisch gedeckt. Mit Fladenbrot, Salzhering und Hafersuppe.
Als die Kinder gegessen hatten, sangen sie weinend einen Vers aus dem Gesangbuch:

„Ich bin so froh zur Heil`gen Nacht,
da Jesus kam zur Welt.
Der Engel Sang ward hold gemacht,
der Sterne Licht erhellt …“

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